Gehörtest mit Vogelgezwitscher

Wer von Oberengstringen nach Weiningen wandert, stösst auf ruhigen Aussichtsplätzen auf sogenannte «Hörbäume». Ein Hörbaum ist ein ganz gewöhnlicher Baum, vor dem ein Pfahl mit einer hellblauen Tafel im Boden steckt. Auf der Tafel steht ein merkwürdiger Satz: «Hören Sie die Vögel noch zwitschern?» Die Frage aus heiterem Himmel macht einen natürlich stutzig – und man spitzt unwillkürlich die Ohren.

#

Genau das ist beabsichtigt. «Das Vogelgezwitscher kann als erster Gradmesser dafür verwendet werden, wie gut man noch hört, sagt Carmen Röser, Vorstandsmitglied von PRO AUDITO Zürich, einer Untersektion von Pro Audito Schweiz, der Organisation für Menschen mit Hörproblemen. Die Idee zum Hörbaum habe der Verein Hörbehinderter Entlebuch und Wolhusen entwickelt.

Kritischer Frequenzbereich

Physikalisch lässt sich der naturnahe Test wie folgt begründen: Wenn wir reden, tun wir das in aller Regel im Frequenzbereich von 500 bis 7000 Herz. Mit zunehmendem Alter hören viele Menschen die oberen Frequenzen schlechter. Dort sind die Konsonanten angesiedelt, die einen Grossteil der Wörter ausmachen. Wer nicht mehr gut hört, versteht somit die Wörter nicht vollständig und damit auch nicht mehr den Sinn der Sätze. In diesem kritischen Klangspektrum zwitschern auch die Vögel. «Wenn man sie nicht singen hört, kann das auf einen Hörverlust hindeuten», sagt Röser. Der Hörbaum versetzt die Menschen folglich in die Lage, auf einfachste Art ihr Gehör zu testen.


Röser, Anfang 60, weiss aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, nicht gut zu hören. Mit 9 erkrankte sie an Mumps und Masern. Glücklicherweise verlor sie das Gehör nicht vollständig, hörte aber die hohen Frequenzen nur noch schlecht. Das war lange kein grosses Problem; als junge Frau schaffte sie es sogar, den Teilverlust zu überspielen. Auch nach der Heirat hatte sie die Behinderung gut im Griff: «Wie alle anderen Mütter habe ich die Mimik meiner Kinder interpretiert», erzählt sie. Später habe sie ihren Nachwuchs dazu angehalten, klar, deutlich und von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Schwierigkeiten hätten sich erst in den Jahren der Pubertät ergeben: «In diesem Alter wollten die Kinder nicht mehr dauernd auf die Nachfragen ihrer Mutter antworten.» Für Röser ist es nach wie vor wichtig, dass ihre Gesprächspartner sie beim Reden direkt ansehen. Zwar übertragen ihre zwei Hörgeräte einen Teil der Laute. «Um wirklich alles verstehen zu können, muss ich aber die Lippen sehen können», sagt die Elektrotechnikerin, die sich auf die Medizinaltechnik spezialisiert hat.

Nicht zu lange warten

Das Thema Hörgerät sei für die Betroffenen «heikler als eine Brille», konstatiert Röser. Ältere Menschen würden sich nicht gerne eingestehen, dass sie eine Hörhilfe brauchen. Dabei sei es enorm wichtig, sich möglichst früh die richtige Unterstützung zu besorgen: «Wenn man zu lange wartet, sind die Hörverluste schon zu gross; die Anpassung von Hörgeräten gestaltet sich komplexer und ist oft weniger erfolgreich.»


Wer beim Hörbaum-Test feststellt, dass er das Gezwitscher der Vögel kaum mehr vernimmt, findet auf den blauen Tafeln Kontaktangaben der kantonalen und nationalen Pro Audito-Niederlassungen, darunter auch die Nummer des Pro Audito Telefon-Hörchecks - 0900 400 555. Mit einem Anruf kann man diskret abklären, wie es ums eigene Gehör steht. Die Kosten betragen 50 Rappen pro Minute, insgesamt aber höchstens 2.50 Franken. Bei einem Resultat «unter dem normalen Bereich" regt Pro Audito dazu an, das Gehör beim Ohrenarzt oder Akustiker untersuchen zu lassen. Der Telefon-Hörcheck ersetze aber weder den Gang zum Ohrenarzt noch zum Akustiker.

Zum Weiterlesen